Diskussion

Die Beschreibung der sozialen Lage und des Sozialstaats im Kanton Solothurn ist ohne Bezug zur gesamten Schweiz und zu gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen nicht vollständig. In diesem abschliessenden Kapitel zeigen wir deshalb die grossen Herausforderungen, die sich in Zukunft im Kanton Solothurn stellen.

Ausgangspunkt bildet die Tatsache, dass zunehmend grössere Bevölkerungskreise soziale Leistungen erhalten und die entsprechenden Kosten zunehmen. Dieser Befund hat über die Kantonsgrenzen hinaus Gültigkeit. Welche gesellschaftlichen Entwicklungen dahinter stehen und wo die künftigen Herausforderungen liegen, wollen wir mit sechs Kernaussagen veranschaulichen. Damit wollen wir auch einen Beitrag an die laufenden Diskussionen leisten.

Die materiellen Grundlagen breiter Bevölkerungsschichten sind prekär

Die Zunahme der finanziellen Leistungen an die Bevölkerung dokumentiert, dass die Sozialsysteme gut ausgebaut sind und soziale Risiken wirksam abfedern. Sie übernehmen eine notwendige Funktion, auch wenn in unserer Gesellschaft nach wie vor ein relativ grosser Wohlstand herrscht.

Offensichtlich lebt eine immer grössere Anzahl Personen in prekären materiellen Verhältnissen. Sie können einen Ausfall des Erwerbseinkommens nur für sehr kurze Zeit mit eigenen Mitteln auffangen. Sobald aus der prekären Lage bzw. aus dem sozialen Risiko eine tatsächliche Notlage entsteht, bilden die sozialstaatlichen Sicherungssysteme in allen untersuchten Bereichen wirksame Auffangnetze.

Es resultieren teilweise rasante Wachstumsquoten, die längerfristig zu ernsthaften Finanzierungsproblemen führen können. Diese Wachstumsquoten stellen eine Herausforderung dar, der sich der Kanton mit Überlegungen und Massnahmen stellen muss. Nicht lösbar sind diese Probleme allerdings mit kurzfristigen Eingriffen wie der Kürzung der Leistungen oder der Verlagerung von Leistungsempfänger/innen in ein anderes Sicherungssystem (wie z.B. Taggelder der Arbeitslosenversicherung). Damit werden nur die Belastungsgrenzen verschoben, doch zum Teil mit einschneidenden Konsequenzen für die Betroffenen.

Die erodierende Integrationskraft des Arbeitsmarkts belastet den Sozialstaat

Für längerfristig wirksame Massnahmen müssen die Ursachen der genannten Problemtendenzen berücksichtigt werden. In direkter Beziehung zu den Wachstumsquoten in der sozialen Wohlfahrt steht die sinkende Integrationskraft des Arbeitsmarktes. Ganze Teile der Bevölkerung werden dauerhaft aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossen und ihre Reintegration ist auch mittelfristig nicht mehr möglich. Dies gilt z.B. für schlecht oder gar nicht qualifizierte Arbeitskräfte, aber auch immer stärker für Personen, die den Leistungsanforderungen nicht mehr gewachsen sind. Das zeigt zum Beispiel die starke Zunahme an psychisch begründeten Neurenten bei der Invalidenversicherung.

Eine weitere Herausforderung für die Gesellschafts- und Sozialpolitik sind die nicht existenzsichernden Löhne. Das Phänomen der Working Poor (Glossar) zeigt, dass breite Bevölkerungsschichten in materiell prekären Verhältnissen leben. Dieses Beispiel dokumentiert auch, wie sehr die Bereiche Wirtschaft und soziale Wohlfahrt miteinander verschränkt sind. Wenn diese Personen Sozialhilfe beanspruchen, dann wird damit direkt das Niedriglohnsegment und somit die Wirtschaft subventioniert. Und das ist nicht das Ziel der Sozialhilfe.

Bevölkerungsentwicklung und Migration sind wichtige sozialpolitische Herausforderungen

Neben dieser engen Abhängigkeit zur Wirtschaftsentwicklung prägen zwei weitere Trends den Sozialstaat: die mittlerweile allgemein bekannte demografische Entwicklung und der wachsende Bevölkerungsanteil von Personen mit ausländischer Nationalität.

Durch die demografische Entwicklung verändert sich mittelfristig der Anteil der über 65-Jährigen in Bezug zur erwerbstätigen Bevölkerung. Dadurch gerät das System der Altersrenten und weiterer Sicherungssysteme, unter Finanzierungsdruck. Weil bereits heute Alter und Gesundheit die Hälfte der Mittel in der Sozialen Sicherheit bindet, muss hier mittelfristig gehandelt werden.

Eine grosse Herausforderung bedeutet auch der wachsende Anteil der Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Diese Personen gehören heute zu den mehrfachbelasteten und sozial stärker gefährdeten Gruppen, welche die sozialen Sicherungssysteme überdurchschnittlich stark beanspruchen. Deshalb erfordert ihre Integration dringliche Massnahmen, denn die Migrationsbewegungen werden sich in Zukunft weiter verstärken.

Von der Gleichstellung von Mann und Frau sind wir noch weit entfernt

Trotz aller Entwicklungen, die sich in diesem Bereich zeigen lassen, ist der Grad der Nicht-Gleichstellung der Frauen insbesondere in Politik und Wirtschaft frappierend. Wenn es eine ernsthafte Absicht ist, dies zu ändern, dann müssen wieder verstärkt Fragen nach den Machtstrukturen gestellt werden. Strukturen also, welche zur Aufrechterhaltung dieser Diskrepanz zwischen der rechtlichen Lage und der realen Lebenssituation von Frauen und Männern beitragen. Hinzu kommen Fragen nach den kulturellen Hintergründen, die zur Stabilisierung der Ungleichheit beitragen. Insbesondere die Ungleichverteilung der häuslichen Arbeit und der Erziehungsarbeit ist in diesem Zusammenhang interessant und zu diskutieren.

Zugleich ist aus den Daten ein eindeutiger Trend herauszulesen: Die Gleichstellung von Frau und Mann wird weiter fortschreiten. Einige Konsequenzen davon behandeln wir im folgenden Abschnitt.

Die unentgeltliche gesellschaftliche Arbeit wird in Zukunft abnehmen

Aus dem Sozialbericht ergeben sich deutliche Indizien, dass neben den staatlichen Leistungen auch informelle Netze zur sozialen Sicherung beitragen (Beispiele: regelmässige Hilfe bei der Kinderbetreuung, bürgerschaftliches Engagement von älteren Personen). Im Kanton Solothurn sogar in stärkerem Masse als im schweizerischen Durchschnitt.

Das mag mit der ländlichen Struktur des Kantons und damit der grösseren Beständigkeit traditioneller Orientierungen und anderer Strukturen zusammenhängen. Gleichzeitig zeichnet sich aber eine klare Tendenz ab, dass sich diese herkömmlichen informellen Netze, die vor allem von der Familie und der traditionellen Rollenteilung der Geschlechter getragen sind, zunehmend auflösen.

Diese Prognose kann direkt aus unserem Schwerpunktthema abgeleitet werden: Noch leisten die Frauen einen übermässigen Anteil an der nicht bezahlten gesellschaftlichen Arbeit. Doch je stärker die Gleichstellung über die Erwerbsbeteiligung und Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt realisiert wird, desto weniger steht diese Ressource zur Verfügung. Der Bildungsstand der jungen Frauen ist heute praktisch gleich wie jener der Männer. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Frauen mit der Hausarbeit, der Kindererziehung und der Pflege und Versorgung hilfsbedürftiger Familienangehöriger zufrieden geben. Die Frage ist, welche anderen informellen sozialen Formen und Netze sich entwickeln und wie diese unterstützt werden können.

Die Erosion der unentgeltlichen gesellschaftlichen Arbeit ist direkt mit ihrer Ökonomisierung verknüpft. Die externe Kinderbetreuung oder die Pflege sind aktuelle Beispiele. Je mehr aber die ehemals privaten, zumeist von Frauen unentgeltlich erbrachten Leistungen als bezahlte und zu bezahlende Arbeit gelten, desto wichtiger wird der individuelle Lohn. Die Folge ist, dass auch mehr in die Erwerbsarbeit investiert werden muss. Die andere Folge ist, dass damit tendenziell steigende Kosten für sozialstaatliche Aufgaben verbunden sind.

Zukünftige Probleme eines sozialen Staates werden komplexer

In einem ganz grundsätzlichen Sinn muss daher über die Frage nach der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit und der daran geknüpften Verteilung sozialer Ungleichheit nachgedacht werden. Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement sind nicht zufällig Stichworte, die in den letzten Jahren vermehrt diskutiert wurden. Solche Überlegungen dürfen allerdings die gesellschaftliche Entwicklungsdynamik nicht ausblenden, wenn sie nachhaltige Ergebnisse erzielen wollen. Diese Dynamik wird nach wie vor stark durch die Integration über Erwerbsarbeit und die fortschreitende Ökonomisierung lebensweltlicher Aspekte des gesellschaftlichen Lebens bestimmt. Die Folgen sind u.a. sichtbar als Erosion der informellen, unbezahlten Arbeit und einem steigenden Finanzierungsbedarf. Weil die Wachstumsdynamik des Sozialstaats unmittelbar mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung verknüpft ist, können die sich aus den Entwicklungstendenzen abzeichnenden Probleme nicht isoliert gelöst werden, indem beispielsweise die Probleme auf die Finanzierungsfrage des Sozialstaats reduziert werden. Darin besteht die grösste Herausforderung, nämlich sich bei der Problemlösung der ganzen Komplexität zu stellen.

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